/ Kurzgeschichte

Lieber Besucher,

 

hier finden Sie meine aktuelle Kurzgeschichte.... (Entstehung, Datum, Veröffentlichung, Grundidee)


MUSIK  DES  LEBENS

 

Vor dem Wasserturm ist zum Glück ein wenig Grün in meiner Nachkriegsstadt. Wie ein mahnender Zeigefinger erinnert er an Vorbombenzeiten. Unsere alte Heimat haben wir selbst vernichtet, indem wir versucht haben, anderen ihre eigene Heimat zu rauben.

Nun, jetzt ist da, die Welt, sie geht vor meinen Augen spazieren, in meiner Stadt. Die Welt sollte Deutschland gehören. Jetzt ist die Welt zu uns vorgedrungen.

Zum Glück sind keine Panzer gekommen. Es sind nur einzelne Menschen, jeder ein Christoph Kolumbus, um die halbe Welt gezogen ins für sie Unbekannte, zu uns und unserer Kultur.

Jetzt bin ich Teil der neuen Normen, denen sie sich anpassen sollen.

 

Eine Gruppe von Farbigen fesselt meine Aufmerksamkeit. Ihre Haut ist mir nicht sehr vertraut. Aber ihre weichen, fließenden Bewegungen sind es, die mich interessieren, ihr Gesang, ihr Rhythmus.

Sie üben Capuera. Sie greifen sich spielerisch an, respektvoll, ohne sich zu berühren - ausweichen und vorschnellen. Wie eine pendelnde Kobra, jeden Moment bereit zum Rückzug, jeden Moment bereit zum Angriff.

Aufgeben heißt nicht verlieren.

Bereit sein, offen sein, in Bewegung bleiben.

Ganz alleine mit sich und mit einem Partner, von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge, gleichberechtigte Begegnung.

Neugierig frage ich sie nach ihrer Heimat. Sie geben mir einen Zettel. Schau dir alles an, sagen sie, und geh ohne Begleitung, geh allein.

 

Bum Da Bum. Bum Da Bum. Tiefe Trommeln dröhnen durch die dunkle Nacht mit langsamen Schlägen. Bum Da Bum. Bum Da Bum.

Die Luft erzittert, das Bauchfell bebt.

Exotisch helle Schläge wirbeln schnell dazwischen.

Die Nacht atmet schwer von Duft und Wärme. Schwärze lagert darüber, durchlöchert von endlos vielen hellen Punkten – größere und kleinere Sterne.

Schatten liegen auf dem Platz, Lichtstreifen dazwischen hellen sie auf.

Neue Trommelschläge erscheinen und treten zu den dröhnend langsamen, zu den hellen schnellen

Ein neuer Körper aus Klang bildet sich:

Takka Takka – wie Gesang ist der Kopf.

Bum Da Bum – der vibrierende Bauch.

Drrrr Drrrr – die tanzenden Arme.

Die Beine fehlen noch. Ihr Klang erhebt sich langsam und bedächtig, als würden sie aufstehen, eine weitere Reihe von Fasstrommeln dröhnt – Duum Duum Duum.

Jeder Klang steht alleine, jeder für sich selber drängt sich in mein Ohr.

Das verwirrt mich. Wie soll ich da zuhören?

Soll ich meiner eingefleischten Gewohnheit zu beurteilen folgen? Soll ich differenzieren, unterteilen, isolieren, einteilen?

Das alte Europa in mir verdeckt die Sicht auf die neue Welt.

 

Ich versuche mich treiben zu lassen, öffne meine Sinne. Die Nacht ist Verführung, eine schwere, süße Frucht. Die Schwärze wird zum Gefühl, der Duft wird zur Mahlzeit.

Der Kopf wird zu Musik und singt, der Bauch gibt die Energie.

Die Arme und Beine akzeptieren, untermalen und tanzen. Ich bin in Bewegung, gelenkt von den Impulsen, die mich berühren.

Vor mir tanzen schweißglänzende Männer, fast nackt. Ihre Bewegungen sind  rhythmisch, schwingend und stoßend.

Frei zeigen sie ihren Körper. Ihre Hüften drücken ihre Kraft aus, ihre Ausdauer, ihre Geschmeidigkeit. Ihr Tanz ist ihr Versprechen, Lust zu geben, sich zu verschenken. Ihre Bereitschaft zu nehmen und zu öffnen ist unverblümt und offensichtlich.

Mir gefallen Ihr Stolz und ihre Freiheit. Sie stehen aufrecht und sind sich ihrer selbst bewusst.

Ihre Männlichkeit ist mit ihrem Körper verschmolzen.

Aber als Masse, versammelt auf einem Platz, mutet dieses Mann-Sein aufdringlich an.

Dem Weib, dem wird ich es zeigen.

Bum Da Bum. Bum Da Bum. Takka. Takka.

Weiter jagt die Musik das Herz und den Puls. Aufgeheizt werden, das Blut strömen lassen, Gerüche und Düfte schmeicheln lassen, Hunger bekommen auf das Leben.

 

Ich gehe zu den Trommelschlägern und staune.

Metzgerhände und Bierbäuche arbeiten schwitzend vor sich hin, Schwerstarbeiter am monotonen Fließband., gleiche Bewegungen über Stunden.

Die Augen, das Gesicht aber sprechen eine andere Sprache: Pures Leben, pure Freude.

Bum Da Bum. Bum Da Bum.

Eine Sprache, die die Trommler selber sprechen, ihre eigene Sprache, die sie verstehen.

Die Sprache von Freunden, die sonst nicht viel sprechen, die sich nur wenig sagen müssen,

keine Worte nötig haben,  sehr reduziert und rudimentär - geprägt von jahrelanger harter Arbeit, getragen von dem Willen, von der eigenen Arbeit zu leben, sich in Armut zu ernähren, versuchen zu überleben – zusammen mit der Familie und für die Familie.

Sie bilden das Rückgrat. Sie sind die Kraft und die Beständigkeit. Sie tragen alles und steuern voran. Das Schiff kann schwimmen, die Maschine läuft.

 

Quirlige, leichtfüßige Männer trommeln die Ekstase, die Läufe und die Quertreibereien, das flatternde Fliegen.

Sie sind die Experimentierfreudigen, die Suchenden. Sie bahnen neue Wege und legen den Grundstein für Ideen der Veränderung und des Aufbruchs, des Umschwungs, der Revolution.

Sie sind aber auch die Leichtlebigen, die das schnelle Geld lieben und das Indentagleben.

Zwischen beiden Polen bewegen sich die Kinder und die Jugendlichen, gut geschützt und in Sicherheit. Eingebettet in die Struktur der älteren.

Sie trommeln und wirbeln die Spitzen hin, die Ausfälle, die geschmeidige Schnelligkeit. Ihre Schläge haben eine unwiederholbare Leichtigkeit und sprudelnde Lebenslust.

Aus dem Stand, ohne Vorbereitung, ohne Hinarbeiten.

Spontan, selbstverständlich und natürlich, elegant und frisch, unbekümmert.

 

Der Dirigent tanzt, was er hört. Er ist das Spiegelbild, die Resonanz auf das Ganze. Er zeigt der Gruppe, was geschieht und wie sie harmoniert.

Er ist auch der Impulsgeber mit seiner Trillerpfeife, die grell zwitschert und schrillt:

Wir brauchen mehr Basis, mehr Fundament.

Jetzt ist es zu monoton, mehr Spitzen bitte.

Wo bleibt die Idee, das Spritzige.

Wir brauchen Richtung und Fundament

Jeder spielt und arbeitet für sich allein, und alles wächst im Klang zusammen. Einer für alle, alle für einen.

Wieso eigentlich, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Das ist doch Propaganda, pure Ideologie. Das hat sich längst geschichtlich überlebt und selbst zerstört. Einer für alle, alle für einen.

 

Hier aber leben Menschen mit ihrer Musik. Ein Körper bestehend aus vielen Einzelteilen. Kaum zu ertragende Lebenssituationen, Hunger und Armut, weiße und schwarze Haut., Mann und Frau, Junge und Alte.

Alle teilen den gleichen Rausch, die Trommel als Ausdruck der Lebensfreude ist die Anziehungskraft und der Mittelpunkt.

 

Ein helles Lachen zieht mich zur anderen Seite des Platzes.

Tanzende Frauen mir einem schmalen Tuch über Bauch und Po, das mehr betont als verdeckt. Viele Busen sind halb bedeckt und wippen im Takt.

Die Frauen tanzen auf eine Art, die Männer nicht kalt lässt. Als männlicher Betrachter bekommt man Lust, Gegenstand ihres Tanzes zu werden.

Jetzt, gleich, in diesem Moment.

Verführungskraft von Frauen kann betörend sein – Träume entstehen – selbst bei prinzipientreuen Männern.

Die Hand der Tänzerinnen liegt provozierend nahe und sehr bewusst am Ansatz der Schamhaare.

Die andere Hand liegt auf der Taille und schwingt.

Der Unterleib beugt sich, als würde eine Frau auf einem Mann sitzen und ihn einer Ekstase entgegentreiben.

Die Hüften schwingen seitlich und im Kreis.

Die Beine beugen sich, tiefer, tiefer, die Bewegungen werden schneller.

Jetzt sitzt sie links, jetzt sitzt sie rechts.

Das Gesicht, vor allem die Augen zeigen Stolz und Würde. Ihre Geschicklichkeit in orientalisch-südamerikanischer Frauenkunst ist Ausdruck von jahrelangem, intensivem Üben.

Die Geduld einer anderen Kultur ist dafür erforderlich, gepaart mit einem tiefen Gefühl für Natur und Natürlichkeit, das bis zu den Sternen reicht und sich dem Einfluss der Sterne öffnen möchte.

Von Kindesbeinen an.

Ein Frauenbild gewinnt Konturen.

Eine Frau, die den Mann fasziniert, ihn lenkt und steuert – mit ihrer Anziehungskraft, mit ihrer Vagina. Die den Zeitpunkt des Orgasmus bestimmt und die Intensität der Ekstase.

Das Bild von einer Frau, die ihre Fraulichkeit bewusst trainiert und einsetzt als eine Meisterin der Lust und der Lustbeherrschung. Als eine Herrscherin über den Mann im Reich der Sinne.

Als eine Frau, der die Männer zu Füßen liegen - solange sie in der Nähe ist.

Nur darf sie sich nicht entfernen, denn die nächste Meisterin wartet um die Ecke.

Im frei improvisierten Wettbewerb wird der Kampf um den Mann ausgetragen. Treue ist nur ein verschämtes, verstecktes Gefühl, wenn die Liebe für eine Nacht einmal Überhand gewinnen sollte.

 

Vor dem Wasserturm fesselt  eine Gruppe von Farbigen meine Aufmerksamkeit. Ihre Haut ist mir inzwischen sehr vertraut. Ihre weichen, fließenden Bewegungen sind es, die mich immer noch interessieren, ihr Gesang, ihre Musik.

Sie üben Capuera. Sie greifen sich spielerisch an, achtungsvoll, ohne sich zu berühren - ausweichen und vorschnellen. Wie eine pendelnde Kobra, jeden Moment bereit zum Rückzug, jeden Moment bereit zum Angriff.

Aufgeben heißt nicht verlieren, sich nicht verlieren.

Bereit sein, offen sein, in Bewegung bleiben. Ganz alleine mit einem Partner, von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge, gleichberechtigte Begegnung.

 

Neugierig frage ich sie, ob ich mit ihnen üben darf.

berndgeorge@hotmail.com